29/12/2013

Deutschland, Amerika und die Frage von Vertrauen im Cyberzeitalter

Von Dr. Andrew B. Denison

Die deutsch-amerikanische Partnerschaft ist zu wichtig, um die „NSA-Affäre“ als politisches Theater oder chronische Neurose abzuschreiben. Die Sorgen so vieler Deutscher über das Abspeichern, wenn nicht gar das Abhören ihrer digitalen Kommunikation verdienen eine ernsthafte Diskussion, denn die Suche nach einer gemeinsamen Geschäftsgrundlage für die exponentiell steigende Vernetzung der Weltbürger ist eine der wichtigsten Aufgaben der deutsch-amerikanischen Partnerschaft. Es geht nicht nur um Freiheit und Sicherheit, sondern auch um Souveränität und Vertrauen im Cyberzeitalter.

Die Diskussion sollte mit der Frage anfangen, wo genau das von Edward Snowden offengelegte Handeln der National Security Agency und der amerikanischen Regierung die deutschen Gemüter am schmerzlichsten trifft.

Unschuldsvermutung
An erster Stelle steht wohl die Unschuldsvermutung. Warum sollten Amerikaner in die Privatsphäre unschuldiger Deutscher hereinschauen wollen und können? Warum sollten so viele deutsche Mail- und Telefondaten abgefangen werden? Amerika hat doch nicht das Recht, über Schuld und Unschuld—dazu noch bei Freunden—allein zu entscheiden.

Diese Mißachtung der Unschuldsvermutung ist vielen Deutschen unverständlich, oder wenigstens unverträglich mit dem Gedanken eines Amerikas als gutem Freund Deutschlands. Manche sehen nicht nur einen Missbrauch des deutschen Datenschutzes, sondern auch eine Verletzung deutscher Würde.

Die deutschen Grundrechte seien von der NSA attackiert, die wichtigen Grundsätze des Grundgesetzes ausgehöhlt. Wir lesen von Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung: „Die umfassende, generelle und flächendeckende US-Überwachung der Bundesbürger ist nicht einfach nur ein Angriff auf die deutsche Souveränität. Sie ist ein umfassender Angriff auf die Grundrechte der deutschen Bürger. Heute muss gelten: Souverän ist, wer die Grundrechte seiner Bürger schützen kann.“

Deutschland ist zu Recht über seine Souveränität im Cyberzeitalter besorgt. Die Handlungsmöglichkeiten und Kostenersparnisse der globalen Arbeitsteilung sind verlockend, aber sie haben ihren Preis. Man legt sich offen. Vernetzung ist ein Verlust der Souveränität, aber auch ein Gewinn an Handlungsmöglichkeiten. So bleibt Informationsautarkie teuer und Souveränität relativ.

Unter Freunden
Viele Deutsche scheinen über die Umgangsform „unter Freunden“ verstört zu sein. Das freundschaftliche Vertrauen ist verloren. Die deutsche Freundschaft mit Amerika und die relativen Rollen der Partner sind schon lange sensibel. Aber im Jahr 2013 ist das Wort „Freund“ in einen anderen Zusammenhang gestellt worden als sonst. „Falscher Freund“ tituliert der Stern, „Verlorener Freund“ der SPIEGEL. „Fremder Freund“ stand überall.

Man spioniert Freunde nicht aus, oder wenigstens lässt man sich nicht dabei ertappen. Als Freund Deutschlands, und in einer gleichberechtigten Beziehung, sollte Amerika Deutschland nicht ausspionieren, keine deutschen Daten kopieren und sowieso keine deutschen Daten manipulieren oder annullieren. In anderen Worten, viele Deutsche meinen, Freundschaft verlange, die amerikanische Regierung sollte den deutschen Datenrechten mindestens den gleichen Respekt erweisen wie den amerikanischen. Das wird ein langer Weg, aber die atlantische Partnerschaft wäre dadurch gestärkt.

Maßlos und sanft totalitär
Auch wenn viele Deutsche die Rolle der Geheimdienste anerkennen, auch die Notwendigkeit des Abhörens bestimmter Personen, äußern sie große Kritik an der „Maßlosigkeit“ des Abspeicherns. Man liest von „500 Millionen“ abgespeicherter Daten in einem einzigen Monat und kann nur staunen. In diesen Exzessen sehen bestimmte Beobachter Amerika auf dem Weg zur totalen Kontrolle.

Amerika sei geplagt von Übermacht und Ohnmacht zugleich. Das Land ist ja auch im Abstieg: Amerika ist ein kranker Patient, so die SPIEGEL-Titelgeschichte vor der Wiederwahl Barack Obamas. Amerika scheint sich selbst kaum regieren zu können, taumelt von einer Krise zur nächsten, und ist doch kurz davor, die totale Kontrolle auszuüben, nach Jakob Augstein eine Art „sanfter Totalitarismus“.

Totalitäre Herrscher und Tyrannen haben schon immer vor Terroristen gewarnt, um ihre eigene Macht, ihre eigenen Geheimdienste zu rechtfertigen. Haben Tyrannen es im Cyberzeitalter einfacher? Stehen wir kurz vor der totalen Kontrolle in einer von Uncle Sam unterjochten Welt? Oder ist es das Gegenteil? „Das Internet ist der weltgrößte nicht-regierte Raum“, sagt zumindest Google Chef Eric Schmid. Nicht-regiert … obwohl ein Zusammenbruch dieses Internets die Welt in Schutt und Asche legen würde! Einigt sich Europa über Datenschutz und Cybersicherheit, so ist eine transatlantische Einigung als Basis einer globalen Einigung wahrscheinlicher.

Amerikanische Verhältnisse
Immerhin, was die Obama-Wahlkampfmaschine alles über ihre Wähler und diejenigen der Gegner wusste, müßte für manche Deutsche noch unheimlicher sein als das, was die NSA über die Deutschen weiß. Selbst wenn Amerikaner keine Melde- oder Ausweispflicht haben, sind sie und ihre Bedürfnisse von Seelenrettern bis hin zu Gewinngierigen aller Art besser erforscht als je zu vor. Solche amerikanischen Verhältnisse wünscht sich kein Deutscher. Vielleicht auch immer weniger Amerikaner.

Heute zwei, bald sieben Milliarden Smartphones, die immer smarter werden, immer mehr Information austauschen, ermöglichen zugleich Unmengen neuer Verbindungen und Wertschöpfungsketten. Big Data. Man könnte denken, die erwartete Dimension der neuen Datenwucht wird selbst die Speicher- und Verarbeitungskapazität der NSA überwältigen.

Der Staat, ob Rechtstaat oder Parteistaat, meint alles im Blick haben zu müssen. Der Staat könnte aber diesem Ziel immer weiter hinterher rennen. Es ist ein weiter Weg von rohen Daten über strukturierte Information bis zu wertvollem, nützlichen Wissen. Von all dem, was passiert, weiß der heutige Überwachungsstaat nicht unbedingt mehr als sein Vorgänger. Das vormoderne Dorf war übersichtlich, das globale Dorf ist es noch nicht.

Politischer und wirtschaftlicher Missbrauch
Für viele Deutsche scheint es unheimlich zu sein, dass die Amerikaner im Besitz all dieser Daten sind. Könnte Washington diese reichhaltige Datenschatztruhe, diese Pandora-Büchse, irgendwann benutzen, gegen Deutschland oder gegen Deutsche? Was Amerika als Vorbeugung sieht, versteht Deutschland schon als Gefahr.

Nicht wenige fürchten, dass all diese Emails, Telefonate und Bewegungsprofile persönlich gelesen, gehört und verfolgt werden. Andere wiederum fürchten unmenschliche Algorithmen, die willkürlich und ohne Grund Polizisten an die Haustüren schicken und Passagiere aus den Flugzeugen schmeißen lassen.

Auch die Angst vor Industriespionage durch die NSA ist weit verbreitet. Präzise Beweise über wirtschaftlichen Gewinn irgendwelcher amerikanischen Firmen sind jedoch schwerer zu finden. Wenn die NSA Wirtschaftsspionage betreiben wollte, sähe dies wahrscheinlich ganz anders aus. Dennoch—für Deutschland bleibt Industriespionage ein Problem. Innenminister Hans-Peter Friedrich sprach Ende August 2013 von 50 Milliarden Euro Verlust pro Jahr durch den Raub vom „Rohstoff Geist“. Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen sagte einen Monat zuvor, „die überwiegende Zahl der in Deutschland erkannten staatlichen Spionageangriffe werden China und in geringem Umfang Russland zugerechnet“.

In Sachen Wirtschaftsspionage gibt es eine willkommene Nachricht unter den schlechten: Noch nie gab es einen solchen Boom der Internetsicherheits- und Verschlüsselungsindustrie. Man ist jetzt sicherer vor der NSA—und, viel wichtiger, vor all den anderen Ganoven und Gangstern der Cyberunterwelt.

Wie auch immer die NSA ihre Daten benutzt, all diese deutschen Vorwürfe münden aus der Sorge um verlorene deutsche Souveränität—nicht so sehr wegen globaler Anarchie, sondern wegen unfreundlicher amerikanischer Abhörpraktiken—und verlorenes Vertrauen in den amerikanischen Freund. Angela Merkel spricht von einem Verlust des Vertrauens, das es jetzt wiederherzustellen gilt. Das Vertrauen, das durch Abkommen über No-Spy und Datenaustausch zurückgewonnen werden könnte, ist sicher wichtig. Das Vertrauen, dass Amerika weiterhin seine Interessen verfolgt, ist ebenso wichtig. Trotz Verstimmung kann man als Deutscher schon darauf vertrauen, dass die USA noch lange ein vitales Interesse an der Erhaltung und Stärkung der deutschen Souveränität im Sinne von deutschen Handlungsmöglichkeiten haben werden.