Die Amerikaner wählen oft und scheinbar mit immer größerer Leidenschaft. Doch Wahlen kommen und gehen, Interessen und Institutionen bleiben bestehen. Der Ausgang amerikanischer Wahlen war über die Jahre hinweg immer schon knapp – mit ein Grund dafür, warum die Wahlergebnisse in Amerika selten einen radikalen politischen Wandel bewirken. Eine Mehrheit der Amerikaner hat ein Interesse an einem kompetenten, aktiven Staat, der das Land integrativ, innovativ und weltoffen hält. Selbst in der Ära Trump haben die Interessen und Institutionen der Amerikaner dafür gesorgt, dass der Schaden begrenzt geblieben ist.
Gemeinsame Interessen, tragfähige Institutionen?
Natürlich haben nicht alle Amerikaner die gleichen Interessen. Im letzten Wahlkampf zeigten Meinungsumfragen, wie unterschiedlich Republikaner und Demokraten strittige Themen wie Wirtschaft, Umwelt, Krankenversicherung und Einwanderung sehen. Republikaner und Demokraten betrachten sich gegenseitig mit zunehmendem Misstrauen. Aber das gemeinsame Interesse daran, die Integrität der Wahlen zu bewahren, die Exzesse der Trump-Anhänger einzudämmen und die Kompetenz der Machthaber zu stärken, haben dafür gesorgt, dass eine befürchtete „rote Welle“ von MAGA-Republikanern auf eine „blaue Wand“ der Vernünftigen geprallt ist.
Die Institutionen der Amerikaner, einschließlich der tief verwurzelten Rechtsstaatlichkeit, sorgen für Kontinuität, Konsens und einen gewissen Ausgleich der widerstreitenden Interessen. Doch die Institutionen der Vereinigten Staaten, die in einer 233 Jahre alten Verfassung wurzeln, sind in mancher Hinsicht veraltet; vor allem sind sie nicht mehr repräsentativ. Die Interessen der gebildeten, kosmopolitischen, innovativen Bürger der Metropolen werden immer weniger bedient.
Im „Großen Kompromiss“ verteilten die Gründerväter Amerikas in ihrem Streben nach Einheit in der Vielfalt die Macht nicht nur an die Bürger, sondern auch an jeden Bundesstaat, unabhängig davon, ob bevölkerungsreich war oder nicht (ähnlich wie der deutsche Bundesrat). Das Prinzip „ein Staat – eine Stimme“ ist die Grundlage für das heutige Problem. Wyoming hat 600.000 Einwohner und zwei Senatoren, Kalifornien hat 40 Millionen Einwohner und 2 Senatoren. Bei den Präsidentschaftswahlen hat das ländlich und konservative Wyoming 1 Elektorenstimme pro 200.000 Einwohner, das städtische und liberale Kalifornien 1 Elektorenstimme pro 727.0000 Einwohner. Donald Trump konnte also mit 3 Millionen weniger Wählerstimmen als Hillary Clinton im Jahr 2016 gewinnen.
Exzesse eindämmen
Trotz dieser Probleme mit divergierenden Interessen und nicht repräsentativen Institutionen haben die Zwischenwahlen gezeigt, dass Amerika immer wieder in der Lage ist, die Exzesse seiner sehr streitbaren politischen Kultur einzudämmen.
Amerikanische Zwischenwahlen bringen traditionell eine Bestrafung für die regierende Partei. Im Jahr 2022 war dies umso mehr zu erwarten, sei es aufgrund der Inflation, der Unbeliebtheit Bidens, der Anfälligkeit des Wahlsystems oder der Wut von Trumps Anhängern nach der FBI-Untersuchung von Mar-a-Lago. Viele Demokraten befürchteten einen großen Sieg für die MAGA-Republikaner und Donald Trump und eine damit einhergehende Erosion der amerikanischen Demokratie.
Hohe Wahlbeteiligung und zahlreiche Streitthemen
Doch das System hat gehalten, trotz oder wegen des vielen Geldes und der hohen Wahlbeteiligung. Das Auszählen funktionierte. Die Versuche der MAGA-Republikaner, durch verschiede Schikanen die Wahlbeteiligung der Demokraten niedrig zu halten sind gescheitert. Amerika scheint es gelernt zu haben, mit Briefwahl und wochenlang geöffneten Wahllokalen vernünftig umzugehen. Junge Leute haben in großen Zahlen abgestimmt. Unerwartet war die hohe Zahl der „Unabhängigen“, die bei den Demokraten geblieben sind, obwohl die Unabhängigen in den Zwischenwahlen traditionell gegen die Partei im Weißen Haus stimmen. Ältere Menschen haben sich dramatisch bewegt von 10 plus für Republikaner zu 3 plus für Demokraten. Wohlhabend und vom Staat profitierend. Die Entscheidung des Obersten Gerichtshof, die Bundesstaaten Abtreibung verbieten zu lassen, war für viele Frauen ein Grund, die Demokraten zu wählen – Frauen, die sonst vielleicht gar nicht abgestimmt hätten.
Trumps vernichtende Niederlage
Das wichtigste Ergebnis ist die vernichtende Niederlage, die Donald Trump bei den Zwischenwahlen 2022 erlitten hat. Er hat verloren, weil die von ihm unterstützten MAGA-Kandidaten gescheitert sind. Ebenso wichtig war der Wahlsieg des republikanischen Gouverneurs von Florida, Ron de Santis, denn plötzlich sehen viele Republikaner in ihm eine attraktive Alternative zu Donald Trump. Cynthia Lummis, eine Senatorin aus Wyoming und frühere Trump-Anhängerin, sagte nach den Wahlen, Ron de Santis sei jetzt der wahre Führer der Republikanischen Partei.
Die Mühlen des Gesetzes drehen sich langsam, aber unerbittlich. Nichtsdestotrotz sind die Ergebnisse der Zwischenwahlen für die zahlreichen strafrechtlichen Ermittlungen gegen Trump von Bedeutung. Ein politisch starker Donald Trump macht Staatsanwälte, ob zu Recht oder zu Unrecht, vorsichtig und zögerlich bei Ermittlungen. Denken wir an die Kritik an der Razzia in Mar-a-Lago und die damit verbundenen befürchteten politischen Konsequenzen.
Trumps angekündigte Kandidatur für die Präsidentschaftsnominierung der Republikaner ist eine Flucht nach vorn, ein Zeichen seiner Verzweiflung. Die Weigerung der großen Medien, seine Ankündigungsrede zu übertragen, die Abwesenheit republikanischer Kongressabgeordneter oder führender Politiker bei seiner fahnenreichen Erklärung in Mar-a-Lago ist bereits ein deutliches Zeichen seiner Schwäche.
Amerikas Verlässlichkeit und Deutschlands Verantwortung
Was bedeutet das für Deutschland? Amerikas Verlässlichkeit bleibt zunächst einmal erhalten. Die Exzesse der Trump-Jahre gilt es weiter zu vermeiden. Aber das ist kein Grund für Deutschland, Entwarnung zu geben. Angela Merkel hat in ihrer berühmten Bierzeltrede die Frage nach der Verlässlichkeit Amerikas gestellt. „Die Zeiten, in denen wir uns ganz auf andere verlassen konnten, die sind ein Stück weit vorbei.“ Aber die Amerikaner, und nicht nur die Republikaner, fragen ihrerseits nach der Verlässlichkeit Deutschlands.
Die amerikanischen Kritiker Deutschlands werden in dieser Sorge durch ähnliche Befürchtungen vieler anderer Europäer bestärkt. Die Republikaner, die im Senat, nicht aber im Repräsentantenhaus in der Minderheit sind, werden Joe Biden immer dafür kritisieren, dass er nichts gegen die trittbrettfahrenden, Solidarität mit der Ukraine verweigernden, energiepolitisch gespaltenen Europäer unternimmt – und das gilt erst recht für Deutschland als größte, reichste, geostrategisch wichtigste europäische Nation.
Die neuesten Zahlen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft stellen Europa in keinem guten Licht dar. Die USA haben der Ukraine bisher 52,3 Milliarden Dollar an Hilfe zukommen lassen, die EU und die EU-Staaten kaum mehr als die Hälfte davon, nämlich 29,2 Milliarden Dollar. Hier werden die Republikaner, insbesondere die isolationistisch eingestellten Trump-Anhänger, starke Munition finden.
Amerikas Zwischenwahlen haben gezeigt, dass das Land sich selbst regieren und sich selbst korrigieren kann, dass es in der Lage ist, mit Herausforderungen jenseits des Pazifiks und des Atlantiks umzugehen. Aber was ist mit Deutschland?