Von Dr. Andrew B. Denison (English text)
Deutschland ist ein wunderbarer Ort, um sich zu Hause zu fühlen. Nirgendwo sonst in Europa leben so viele Menschen so gut. Verständlich, dass die Deutschen oft von ihrem Wunsch nach Nachhaltigkeit sprechen. In der Tat hat kein Land ein größeres Interesse als Deutschland daran, die heutige offene internationale Ordnung zu erhalten, also die politische, wirtschaftliche und militärische Dominanz der liberalen Demokratien des Atlantiks und des Pazifiks zu sichern.
Die deutsche Außenpolitik hingegen leidet an mangelnder Nachhaltigkeit; mehr vom Selben wird nicht ausreichen, um die Ordnung zu sichern, von der Deutschland am meisten profitiert. Ein so bevölkerungsreiches, wohlhabendes und verwundbares Land wie Deutschland muss die Welt mit anderen Augen sehen. Ein nachhaltiges Deutschland investiert nicht nur mehr in die Verteidigung. Ein nachhaltiges Deutschland wird sich klarer darüber werden, was es in der Welt von morgen will – und was es braucht, um das zu bekommen. Was Deutschland fehlt, ist die Bereitschaft, sich auf einen Streit einzulassen, sei es zu Hause oder in der Welt. Zu viele Deutsche sind zu sehr auf Versöhnung statt auf Konfrontation, auf Frieden statt auf Sieg ausgerichtet. Es fehlt an tragischer Sensibilität, an der Einsicht, dass Gewalt manchmal nur mit Gewalt beantwortet werden kann.
Strategische Abweichungen
Die deutsche Strategie gegenüber Russland, der Ukraine, China und dem Iran wich häufig vom westlichen Konsens ab. Wären die NATO-Staaten der deutschen Strategie gefolgt, wäre wahrscheinlich inzwischen die gesamte Ukraine von Russland besetzt; China hätte es viel leichter, militärischen Druck auf seine Nachbarn auszuüben, Uiguren zu inhaftieren, Taiwan zu bedrohen und die Demokratie in Hongkong zu unterdrücken; Iran wäre in Syrien stärker, näher an Russland und besser in der Lage, die Opposition zu drangsalieren.
Die deutschen Strategien zielten darauf ab, Brücken zu bauen, anstatt Aggressoren zu konfrontieren. Viele, wenn auch nicht alle Deutschen, sehen die Rolle des Landes nach wie vor in der Vermittlung zwischen den Vereinigten Staaten (und ihren kämpferischeren Verbündeten) auf der einen Seite und Russland oder China auf der anderen Seite. Dies ist einer der wenigen Bereiche (abgesehen vom Wunsch nach einem „souveränen Europa“, was immer das auch bedeuten mag), in denen sich Berlin und Paris in ähnlichen Rollen sehen. Andere NATO-Staaten kritisieren diese selbstgewählte Rolle und meinen, dass Deutschland und Frankreich lieber Schiedsrichter sind, die Fouls anzeigen, als starke Spieler in einer starken Mannschaft, die gewinnen will.
Der deutsche Mainstream in der Außenpolitik – einschließlich seiner grundlegenden Mängel – spiegelt sich deutlich in dem jüngsten Aufsatz von Bundeskanzler Olaf Scholz in der einflussreichen amerikanischen Zeitschrift Foreign Affairs wider. Der Kanzler hat viel zu sagen über die vielen Dinge, die Deutschland für Europa getan hat – wofür Deutschland Lob verdient. Gleichwohl werden in dem Essay auch Ziele formuliert, die bedenklich unrealistisch erscheinen.
Kein neuer kalter Krieg!
Bundeskanzler Scholz betitelt seinen Artikel „Die globale Zeitenwende. Wie ein neuer Kalter Krieg in einer multipolaren Ära vermieden werden kann.“ Man kann darüber streiten, wie global Scholz‘ Ankündigung einer Zeitenwende wirklich ist. Was ernsthaftere Fragen aufwirft, ist die Behauptung von Scholz, ein Rezept zur Vermeidung eines neuen Kalten Krieges zu haben. Die strategischen Ziele, die Scholz in seinem Artikel darlegt, würden den Druck des Westens auf Russland und China eher schwächen als verstärken, Russland und China eher glauben lassen, sie könnten das westliche Bündnis spalten – seine Ziele würden den neuen Kalten Krieg eher verschärfen als vermeiden.
Scholz befürwortet zwar eine Auseinandersetzung mit Russland und China, ohne jedoch eine bipolare Konfrontation zwischen zwei Blöcken herbeizuführen. Er kommt zu dem Schluss, dass westliche Stärke und Einheit zwar wichtig seien, aber: „Wir müssen jedoch zugleich der Versuchung widerstehen, die Welt erneut in Blöcke einzuteilen. Das heißt, unser Möglichstes zu tun, um neue Partnerschaften aufzubauen – auf pragmatische Weise und ohne ideologische Scheuklappen“. Die „Versuchung“ scheint eher darin zu liegen, zu glauben, Aggressionen seien zu stoppen, ohne „die Welt erneut in Blöcke einzuteilen“, selbst wenn man „ideologische Scheuklappen“ vermeidet.
Scholz spricht von einer neuen multipolaren Ordnung – „Neue Mächte sind erstarkt oder wiedererstarkt„. Wobei ihm entfällt, dass die westliche Strategie nach dem Zweiten Weltkrieg stets auf die Eindämmung und Abschreckung der nuklear bewaffneten multinationalen Reiche Russland und China ausgerichtet war. Ist die Welt heute multipolar, dann war sie dies auch zu Zeiten des Koreakriegs und der Berlin-Krisen oder des Vietnamkrieges und der Ostpolitik, oder des Mauerfalls 1989 und des Tiananmen-Massakers. Russlands Krieg gegen die Ukraine und Chinas Zerschlagung der Demokratie in Hongkong sowie massive Aufrüstung und zunehmende militärische Provokation Taiwans und der Seeschifffahrt im Südchinesischen Meer zeugen eher von Kontinuität als von Veränderung.
Scholz behauptet, dass Deutschland danach strebt, „ein Garant europäischer Sicherheit zu werden, so wie es unsere Verbündeten von uns erwarten, ein Brückenbauer„, als ob die Erwartungen der Verbündeten der Hauptgrund dafür wären, sich den künftigen militärischen Bedrohungen Deutschlands entgegenzusetzen. Scholz möchte, dass Deutschland „Brückenbauer“ ist. Sicher gut gemeint, aber welche Art von Brücke das sein soll, welche Rolle der wichtigste Brückenträger (Deutschland) spielen soll, ist nicht klar – vor allem, wenn ernsthafte Gefahren die Brücke existenziell bedrohen.
Unabhängig in einer multipolaren Welt!
Scholz sagt: „Die zentrale Frage lautet: Wie können wir als Europäerinnen und Europäer, als Europäische Union in einer zunehmend multipolaren Welt als unabhängige Akteure bestehen?“ Dies wirft die Frage auf, ob Europa in den Jahrzehnten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs jemals ein unabhängiger Akteur gewesen ist.
Noch wichtiger ist, dass die Vereinigten Staaten relativ gesehen so mächtig sind wie seit Langem nicht mehr. Einerseits haben die USA eine Koalition zusammengestellt, wie sie die Welt seit dem Ende des Kalten Krieges und dem ersten Golfkrieg nicht mehr gesehen hat. (Der mit den meisten Freunden gewinnt.) Anderseits scheint Europa hingegen in all seiner Vielfalt der Einheit weiter entfernt zu sein als je zuvor. China sieht sich heute nicht nur dem Widerstand der Vereinigten Staaten, sondern eines Großteils Europas und Asiens gegenüber, und seine Regierungsform scheint weniger tragfähig denn je. Auch Russland und der Iran haben Probleme.
Keine konkurrierenden Blöcke!
So trügerisch die Annahme einer multipolaren Welt auch ist, noch schlimmer ist die Vorstellung, „Deutschland und Europa können zur Verteidigung der regelbasierten internationalen Ordnung beitragen, ohne sich zugleich den fatalistischen Standpunkt zu eigen zu machen, dass die Welt zwangsläufig wieder in konkurrierende Blöcke zerfallen wird.“ Der Bedrohung durch Russland und China zu begegnen, ohne die Welt in „konkurrierende Blöcke“ zu spalten, scheint eine unmögliche Aufgabe zu sein. Vor allem scheint die Vermeidung von Blöcken schwierig, wenn man gleichzeitig behauptet: „Die Welt darf nicht zulassen, dass Putin seinen Willen durchsetzt„, also, „Die durch Scheinreferenden nur dürftig kaschierte rechtswidrige Annexion ukrainischen Hoheitsgebiets werden wir hingegen nicht akzeptieren. Damit der Krieg beendet wird, muss Russland seine Truppen abziehen„. Die Vermeidung von Blockbildung wird auch schwierig, wenn China, diplomatisch ausgedrückt, „einen Pfad in Richtung Isolation und weg von Offenheit eingeschlagen“ hat.
Das Ziel, keine konkurrierenden Blöcke zuzulassen, mit dem Gedanken zu begründen, man habe, „aufgrund der Erfahrung der Teilung unseres Landes im Zuge eines ideologischen und geopolitischen Wettstreits ein besonderes Bewusstsein für die Gefahren eines neuen Kalten Krieges,“ ist nicht überzeugend. Wo Scholz die Risiken für Deutschland sieht, ist unklar: In einer Eskalation und einem Krieg oder nicht doch eher in einer zunehmenden Abhängigkeit Deutschlands von den Vereinigten Staaten, höheren deutschen Verteidigungsausgaben und weniger Möglichkeiten für einen vorteilhaften Handel mit dem Feind?
Ein Hauptgarant!
Scholz sieht die Rolle Deutschlands darin, „als einer der Hauptgaranten für die Sicherheit in Europa Verantwortung zu übernehmen„. Warum er hier zögert zu sagen, dass Deutschland „der“ Hauptgarant von Sicherheit in Europa sein wird, ist unklar. Deutschlands Bruttoinlandsprodukt ist um ein Viertel größer als das Frankreichs oder Großbritanniens, und Deutschland sollte mindestens ein Viertel mehr in sein Militär investieren – was das deutsche Militär zum besten auf dem Kontinent und zum wichtigsten europäischen Anbieter von Sicherheit machen sollte. Dies wird umso wichtiger sein, wenn man nicht so abhängig von französischen, britischen oder amerikanischen Atomwaffen sein möchte.
Scholz spricht von einer Aufstockung des deutschen Verteidigungshaushalts und den laufenden Bemühungen, eine nationale Sicherheitsstrategie zu entwickeln: „Dieser Beschluss markiert die weitreichendste Wende in der deutschen Sicherheitspolitik seit Gründung der Bundeswehr im Jahr 1955.“ Viele würden argumentieren, dass die Entscheidung, die deutschen Verteidigungsausgaben nach dem Kalten Krieg zu halbieren, die „weitreichendste„, wenn auch am wenigsten umsichtige Veränderung in der deutschen Sicherheitspolitik der Nachkriegszeit war. Der Verteidigungshaushalt sank von 2,9 Prozent des BIP im Jahr 1990 auf 1,5 Prozent des BIP im Jahr 1995. Wir werden bald sehen, ob sich der Verteidigungshaushalt bis 2027 verdoppelt.
Kuchen haben – und essen!
Bundeskanzler Scholz spricht nicht für alle Deutschen. Das Land befindet sich in einer Sicherheitsdebatte, wie sie seit dem Streit um die Nachrüstung Anfang der 1980er Jahre nicht mehr geführt wurde. Umfragen zeigen, dass immer mehr Deutsche eine deutsche Führungsrolle und eine konfrontativere Politik gegenüber Russland und China unterstützen. Die oppositionelle CDU und zwei der drei Koalitionspartner setzen sich für eine deutlich härtere deutsche Politik ein, die SPD jedoch nicht. Auch der Bundeskanzler und die Verteidigungsministerin, Christine Lambrecht, tun dies nicht. Stattdessen glauben sie an die Vermeidbarkeit eines Kalten Krieges, an eine hegelsche Aufhebung des Widerspruchs und hoffen, dass sie ihren Kuchen haben und ihn auch essen können. Das ist – leider – keine Zeitenwende.