24/02/2023

Ein Jahr nach Kriegsbeginn – Worum geht es in der Ukraine?

Mariupol

Europa hat in der Nachkriegszeit schon viele Zäsuren durchgemacht – von der Berliner Luftbrücke über die Kubakrise, den Vietnamkrieg, den NATO-Doppelbeschluss, den Fall der Mauer, die Balkankriege und den 11. September 2001. Aber keine dieser Krisen hat so viel, so schnell und von so vielen gefordert wie jetzt der Krieg Russlands gegen die Ukraine. 

Weichenstellung erkennen 
Die Nachkriegsordnung, die „Rules-Based Order“, die auf der UN-Charta, einer westlichen Friedensgemeinschaft und amerikanischer Macht basiert, steht vor einer Bewährungsprobe wie nie zuvor. Es ist eine Zeitenwende, aber mehr noch eine Weichenstellung, denn dieser Krieg kann so oder so enden, mit einer Stärkung der westlichen Friedensordnung oder mit ihrem Ende.

Es steht viel auf dem Spiel, Entscheidungen sind von größter Konsequenz, doch der Ausgang dieser Krise ist ungewiss. Welche Ziele, welche Strategien sind angemessen? Beobachter und Entscheidungsträger aller Couleur sind dabei, strategische Ziele zu formulieren: „Russland darf nicht gewinnen“, „die Ukraine muss gewinnen“, „territoriale Integrität und Souveränität müssen wiederhergestellt werden“, „die Grenzen von 2014“, „die Kampflinien vom 23. Februar“ oder „die Kampflinien von heute“. 

Dass es keinen Konsens, keine Klarheit über die strategischen Ziele gibt, ist nicht nur ein Zeichen von Denkfaulheit, sondern von den vielen Dilemmata dieses Krieges, die Klarheit erschweren. Alle sind sich einig, dass sich russische Aggression nicht lohnen darf, alle sind sich einig, dass es keinen Atomkrieg geben darf. Der Weg dorthin, zwischen Scylla und Charybdis, ist nicht vollständig absehbar. Er hängt von Umständen und Entscheidungen ab, die noch nicht gefallen sind. In den Schnellen der Geschichte muss man agil und adaptiv sein, nicht nur zielbewusst.

Territorium zurückerobern (können)
Doch besteht Konsens darüber, dass die Ukraine mit allem ausgestattet werden muss, was sie zur Rückeroberung von Territorium benötigt, wobei diese Fähigkeit nur schrittweise aufgebaut werden kann. Die Amerikaner und ihre Verbündeten wollen deutlich machen, dass die ukrainischen Streitkräfte von Tag zu Tag fähiger werden, Territorium von den Russen zurückzuerobern. Die beste Art, den Russen klarzumachen, dass sie den Krieg nur verlieren können, ist die ständig wachsende Fähigkeit der Ukraine zur Gegenoffensive. 

Wenn den Russen klar wird, dass sie vertrieben werden können, werden sie vielleicht freiwillig ukrainisches Territorium räumen. Sie haben bereits ihre Bereitschaft zum Rückzug gezeigt – in ihrer halbwegs geordneten Frontbegradigung um Kiew, Charkiw und Cherson. Man denke auch an den Rückzug Serbiens aus dem Kosovo 1999, kurz bevor eine Bodenoffensive der NATO beginnen sollte. Doch die Botschaft des Schlachtfeldes ist oft überzeugender als eine Instandsetzungstabelle. Stück für Stück, Schritt für Schritt wird die Ukraine immer mehr Territorium zurückerobern. Irgendwann werden die Russen das merken, auch wenn der genaue Zeitpunkt noch nicht absehbar ist.

Die Amerikaner wollen eine erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive und haben dies wiederholt angekündigt. Insofern steht jetzt auch die Glaubwürdigkeit Amerikas auf dem Spiel. Scheitert die Ukraine bei dem Versuch, Territorium zurückzuerobern, wäre das ein herber Verlust für Biden und Amerika. Nicht nur Russland und die Ukraine haben in diesem Krieg viel zu verlieren. 

Eskalationsrisiken gewachsen sein 
So wichtig ein Erfolg der Ukraine ist, so groß ist gleichzeitig die Sorge, dass Putin gerade im Falle einer Niederlage am ehesten bereit sein könnte, Atomwaffen einzusetzen oder NATO-Staaten anzugreifen. Hier ist nüchternes Denken gefragt, gerade in Deutschland. Ja, wir sind alle Geiseln, aber das heißt nicht, dass wir uns erpressen lassen dürfen. Schließlich ist es Putin, der angegriffen hat, und eine Welt, in der der Angreifer glaubwürdiger mit Eskalation drohen kann als der Angegriffene, ist eine Welt, die Deutschland nicht zugutekommt. 

Niemand kann wissen, was Putin zu einer Eskalation veranlassen würde, ob es die Einnahme der Krim ist oder nur eine veröffentlichte Karikatur, die ihn demütigt. Aber eines ist klar: Schlimmer als eine Welt, in der Putin eine Atombombe einsetzt, ist eine Welt, in der Putin glaubt, er könne immer wieder mit einem Atomschlag gegen diejenigen drohen, die sich wehren wollen, und die sich dann einfach erpressen lassen.

Glaubwürdigkeitsvorteile der Verteidiger nutzen
Natürlich steht für einen Aggressor oder Geiselnehmer im Falle einer Niederlage viel auf dem Spiel, auch Existenzielles. Aber das gilt erst recht für den Verteidiger. Jeder kennt den Spruch: „Wenn Russland aufhört zu kämpfen, endet der Krieg, wenn die Ukraine aufhört, endet die Ukraine.“ Mit anderen Worten: Russland muss die Realität anerkennen, dass der Verteidiger viel ertragen wird, bevor er sein Land aufgibt. Das gilt für die Ukraine, aber auch für die NATO im Sinne des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta.

Mit dem raschen Aufbau einer Streitmacht an der Ostflanke hat die NATO ihr vitales Interesse an Verteidigungsfähigkeit und Nicht-Erpressbarkeit unter Beweis gestellt.  Es gibt jetzt 100.000 gut ausgebildete und gut ausgerüstete amerikanische Soldaten in Europa, einschließlich der 101. Luftlandedivision. Das Gegenteil von Furcht ist nicht Hoffnung, sondern ein Plan. Die NATO hat einen Plan, sie hat ihre Hausaufgaben gemacht. Am besten begriffe das Moskau schon jetzt.  Aber Rationalität ist in Moskau nicht gerade im Überfluss vorhanden. Wenn jemand im Kreml glaubt, dass Russland mit 300.000 Soldaten 40 Millionen Ukrainer samt westlicher Unterstützung flachlegen kann, dann könnte er auch glauben, dass Atomwaffen eine Wunderwaffe sind.

Schaden begrenzen (können)
Die NATO will die Eskalation für Moskau so unattraktiv wie möglich machen. Sollte dies nicht ausreichen, ist die NATO auch bereit, sich zu verteidigen, den Schaden zu minimieren, den Preis für Russland zu erhöhen, die Abschreckung wiederherzustellen. Man spricht von Eskalationsdominanz, wobei zunehmend die Informationsdominanz entscheidend ist. Die Amerikaner und andere NATO-Staaten müssen in die russischen Befehlsketten und Aufklärungsstrukturen eindringen, um den russischen Militärs klarzumachen, was ihnen angetan werden kann und was sie verlieren könnten. Verhandlungen mit einem Geiselnehmer oder potenziellen Selbstmordattentäter lohnen sich immer, solange die Rahmenbedingungen klar sind. Man lässt sich nicht erpressen.

Deutschlands Beitrag erhöhen
Die westliche Friedensordnung hat vieles überstanden, sie sollte auch der Herausforderung des Krieges Russlands gegen die Ukraine gewachsen sein. Doch nichts kommt von selbst. Strategische Weitsicht und taktisches Geschick nützen wenig ohne den Willen zur Entscheidung, ohne die Bereitschaft zum Zahlen. Und mehr als in allen Krisen zuvor ist Deutschland gefordert, sich entsprechend seiner Macht und geostrategischen Bedeutung für die Stärkung der westlichen Friedensordnung, für das Scheitern der russischen Militäroffensive einzusetzen.