02/12/2023

Henry Kissinger und die künstliche Intelligenz

Henry Kissinger (1923–2023), Foto: David Shankbone

Mit seinem Tiefsinn und Weitblick war Henry Kissinger ein Testament dafür, dass die besten Teile Amerikas auch ein bisschen „Made in Germany“ in sich haben.

Henry Kissinger war die Personifizierung des ultimativen demokratischen Paradoxes, wenn nicht sogar der demokratischen Tragödie. Um die Zukunft eines demokratischen Rechtstaates zu sichern, muss man manchmal Unrecht tun, denn Staaten sind (noch) nicht bereit, ihre Souveränität aufzugeben, ihre Souveränität irgendwelchen internationalen Ordnungsinstanzen zu unterjochen. In anderen Worten, wenn es darauf ankommt, muss man den Gegner töten – aber auch Unschuldige – um den eigenen Bürger, den eigenen Soldaten zu verteidigen. Dies im Namen der Demokratie zu tun, bleibt Ruf und Verruf eines Realpolitikers.

Mehr als Realpolitik
Für Kissinger war Macht diffus, vielfältig, stets im Wandel begriffen und immer im Verhältnis zu anderen Machthabern zu sehen. Henry Kissinger war mehr als ein kalter Realpolitiker, der nur in den Kategorien von Macht und Gegenmacht dachte. Für ihn war das Streben nach internationalem Frieden immer mit einem sensiblen Verständnis für die Rolle der Gerechtigkeit bei der Schaffung einer internationalen Ordnung verbunden. Mit anderen Worten: Unabhängig von den Machtverhältnissen gibt es ohne einen gewissen Konsens keine tragfähige Ordnung, keinen dauerhaften Frieden.

Ob während seiner Amtszeit oder danach, wenn wir an Henry Kissinger denken, stellen wir uns einen diplomatischen Maestro vor, immer bereit, mit Moskau, Peking, Kairo, Tel Aviv, Damaskus und den anderen Hauptstädten der Welt zu verhandeln und nach Übereinstimmungen zu suchen.

Kissingers Interesse an politischen Paradoxen führte ihn jedoch auch zu der Frage, welche Bedeutung Technologie für die Menschheit hat. Atomwaffen boten die vermeintliche Sicherheit, den Feind vernichten zu können. Aber man konnte sich selbst nicht vor der gleichen Vernichtung schützen. Als junger Akademiker machte er sich mit seinem Buch, Nuclear Weapons and Foreign Policy, (1957) einen Namen, in dem er die politischen Dilemmata der erweiterten Abschreckung für Europa analysierte.

KI – eine revolutionäre Technologie
Am Ende seines Lebens wandte sich Kissinger der politischen Bedeutung der Künstlichen Intelligenz zu, also wiederum der Frage, wie revolutionäre Technologien die Beziehungen zwischen Staaten, aber auch zwischen Menschen verändern. Neben den vielen möglichen Vorteilen der KI sieht Kissinger auch große Gefahren, sowohl in der Geopolitik als auch in der Frage, was es bedeutet, Mensch zu sein, ob KI überhaupt mit dem Menschenbild der Aufklärung vereinbar ist.

Zu diesem Zweck hat Kissinger 2021 zusammen mit Eric Schmidt, zehn Jahre lang Chef von Google und heute engagierter Philanthrop mit Schwerpunkt Konkurrenzfähigkeit, und Daniel Huttenlocher, Dekan des Schwarzman College of Computing am MIT, ein Buch mit dem Titel The Age of AI and our Human Future herausgeben. Auf der Grundlage einer Reihe von Seminaren und Expertengesprächen haben die Autoren systematisch und überzeugend die wichtigsten Merkmale der Technologie sowie die wichtigsten gesellschaftlichen und politischen Fragen im Zusammenhang mit ihrer Entwicklung herausgearbeitet.

Die Autoren sehen die Folgen der KI noch dramatischer als die des Buchdrucks, aber ihr Band bietet mehr Fragen als Antworten – was bei Henry Kissinger eher die Ausnahme ist. Sie beschreiben ein schnell voranschreitendes Neuland, wie es die Menschheit noch nie gesehen hat:

The age of AI has yet to define its organizing principles, its moral concepts, or its sense of aspirations and limitations. The AI revolution will occur more quickly than most humans expect. Unless we develop new concepts to explain, interpret, and organize its consequent transformations, we will be unprepared to navigate it or its implications. Morally, philosophically, psychologically, practically — in every way — we find ourselves on the precipice of a new epoch. We must draw on our deepest resources — reason, faith, tradition, and technology — to adapt our relationship with reality so it remains human.

Nach einer Analyse der vielfältigen gesellschaftlichen und sicherheitspolitischen Chancen und Risiken von KI plädieren die Autoren für Expertengremien aller Art auf nationaler und internationaler Ebene, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzen, um die Risiken zu begrenzen.

Amerika und China zusammen
In einem der letzten Essays von Henry Kissinger, The Path to AI Arms Control – America and China Must Work Together to Avert Catastrophe, untersucht er zusammen mit dem Harvard-Politologen Graham Allison, wie Amerika und China Wege finden können, die Gefahren eines unbegrenzten Wettbewerbs im Bereich der KI einzudämmen. Mit ungewohnter Ernsthaftigkeit behaupten Kissinger und Allison:

As we have explored these issues for the last two years with a group of technology leaders at the forefront of the AI revolution, we have concluded that the prospects that the unconstrained advance of AI will create catastrophic consequences for the United States and the world are so compelling that leaders in governments must act now.

Doch in diesem letzten Aufsatz ist auch von Hoffnung die Rede, von der Hoffnung, dass die Lehren aus fast 80 Jahren nuklearen Friedens für die Herausforderung der KI nützlich sein können, vor allem wenn man die Unterschiede zwischen Nuklearwaffen und KI im Auge behält. 

Beide haben existenzielle Konsequenzen für die Menschheit, aber KI wird vom Privatsektor entwickelt, Atomwaffen wurden vom Staat entwickelt; KI ist digital und konzeptionell, Atomwaffen sind physisch und schwer zu reproduzieren; KI wird geheim gehalten, Atomwaffen sind lokalisierbar, zählbar, als Säbel zum rasseln gedacht; KI-Technologien entwickeln sich viel schneller als Atomwaffen – und Verhandlungen sind dringend notwendig. Wie von Kissinger und Allison in diesem Essay gewünscht, fanden Gespräche über KI beim jüngsten Gipfeltreffen zwischen Xi und Biden in San Francisco statt.

Amerikas Glück?
Kissinger und Allison bleiben hoffnungsvoll, schreiben vom guten Glück Amerikas:

Fortunately, the major companies that have developed generative AI and made the United States the leading AI superpower recognize that they have responsibilities not just to their shareholders but also to the country and humanity at large.

Damit erinnern Kissinger und sein Co-Autor daran, wie abhängig die amerikanische Sicherheitspolitik vom Wohlwollen der amerikanischen Technologiegiganten geworden ist. Mit anderen Worten, der alte Realpolitiker, der Macht und Gerechtigkeit immer in Verbindung sah, behauptet nun auch, dass in der internationalen Politik die Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft manchmal genauso wichtig sind wie die Beziehungen zwischen den Staaten selbst.

Henry Kissingers scharfsinnige Analysen werden mir fehlen, die Welt wird durch seinen Tod nur noch komplizierter und unverständlicher.

Andrew Denison