04/10/2023

Mut aus der Wiedervereinigung!

Die Wiedervereinigung ist gelungen, weil sie richtig war. Widersacher und Angstmacher wollten es anders, doch die deutsche Einheit kam – herbeigeführt von einer einzigartigen Koalition des Westens, die darauf bestand, dass ein Europa „whole and free“  der beste Weg sei, die Zukunft zu sichern.

Heute steht die Welt vor einer ähnlichen Herausforderung. Wie bringt man ein Land, das teilweise von russischen Streitkräften besetzt ist, in die NATO, in die EU hinein, ohne die Sicherheit der anderen Bündnismitglieder zu gefährden, ohne ein nukleares Armageddon auszulösen? Deutschland genießt weiter die neue europäische Friedensordnung, die mit der Wiedervereinigung in der NATO gekommen ist – die Ukraine nicht mehr.

Der Fall der Mauer, die Wiedervereinigung und alles, was sich daraus ergeben hat, wirken nach und bleiben für Moskau casus belli. So gelten die Lehren von damals auch für die Auseinandersetzung von heute. Man lässt sich nicht erpressen, man bleibt zielorientiert, man bildet eine große, breite Koalition, die den Widersachern und Angstmachern gewachsen ist, die ihre Stärke daraus zieht, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.

Viele haben an der Wiedervereinigung gezweifelt, aber sie ist gekommen. Viele bezweifeln nun, dass die Ukraine weiterhin die Hilfe aus dem Westen erhalten wird, die sie für ihren Sieg benötigt, insbesondere nach der Entscheidung des US-Kongresses, die Hilfe für die Ukraine vorübergehend auszusetzen. Mit Blick auf die erfolgreiche Wiedervereinigung habe ich die folgenden sechs Thesen zum vorübergehenden Charakter der gegenwärtigen Blockade der Ukraine-Hilfe formuliert.

Die Hilfe der USA für die Ukraine – noch nicht zu Ende

  1. Jede Verringerung der westlichen Unterstützung fordert unnötige Opfer von den Ukrainern, stärkt den Widerstandswillen der Russen und verlängert den Krieg für alle. Die Entscheidung des US-Kongresses, die Unterstützung für die Ukraine vorläufig einzustellen, ist ein schwerer Schlag für die Ukraine und ihre Freunde.
  2. Die Freunde der Ukraine im US-Kongress hatten keine leichte Entscheidung zu treffen. Aber sie sahen keinen anderen Kompromiss, der ausgereicht hätte, um die US-Regierung am Laufen zu halten. Keines der anderen Elemente des Gesetzespakets hätte schnell geopfert werden können, ohne die beispiellose überparteiliche Lösung zu gefährden. Wenn Amerika keiner existenziellen Gefahr ausgesetzt ist, bleiben außenpolitische Prioritäten zweitrangig.
  3. Die Lösung, die Kevin McCarthy schließlich gefunden hat – mit den Stimmen der Demokraten und ohne den rechten Flügel der eigenen Partei, die Regierung am Laufen zu halten – lag zumindest arithmetisch auf der Hand. Eine große Mehrheit der republikanischen Fraktion (126 zu 90) wollte sich nicht mehr vom „Wrecking Ball Caucus“ um Matt Gaetz aus Florida, Marjorie Taylor Greene aus Georgia oder gar Donald Trump  erpressen lassen – auch wenn diese Republikaner dann mit den Demokraten zusammenarbeiten müssten, von ihnen abhängiger würden.
  4. Die amerikanische Hilfe für die Ukraine ist noch nicht zu Ende. Für zu viele Amerikaner ist diese Lebensader der Ukraine zu wichtig, als dass sie lange unterbrochen werden dürfte. Zweifellos ist die Unterstützung nicht mehr die, die sie einmal war – vor allem unter den Republikanern. Aber die Sachzwänge, die dafür sprechen, Putin hier nicht gewinnen zu lassen, bleiben stark, nicht nur um die Sicherheit in Europa wiederherzustellen, sondern auch um China klarzumachen, welche Konsequenzen ein Angriff auf Taiwan hätte. Und nicht zu vergessen – ein Shutdown wäre auch für die Ukraine ein Problem gewesen, denn es hätte sich auf die laufenden Lieferungen ausgewirkt.
  5. Dass der US-Kongress die Hilfe bald bewilligen wird, ist auch den Europäern zu verdanken. In Amerika habe man nicht übersehen, wie sehr die Europäer im vergangenen Jahr ihre Hilfe für die Ukraine aufgestockt hätten und dass die EU-Außenminister das Risiko eingegangen sind, sich in Kiew zu treffen. Europas beeindruckende Solidarität mit der Ukraine macht es in Washington schwieriger zu argumentieren, dass die Europäer – alle Trittbrettfahrer – selbst mehr tun sollten, bevor Amerika wieder „die ganze Rechnung bezahlt“.  Die zunehmende Kritik Europas an China trägt auch dazu bei, das Argument, Europa verdiene keine Solidarität, zu entkräften. Aber der Wahlsieg des russlandfreundlichen Richard Fico in der Slowakei erinnert die Amerikaner daran, dass die Ukraine-Koalition – eine Koalition, wie sie die Welt selten gesehen hat – nicht ohne Streit, nicht ohne Gegner ist. Die Ficos, Morawieckis, Orbans, aber auch die Gaetzes, Taylor Greenes und Trumps weisen auf etwas Wichtigeres hin. 
  6. Wir befinden uns nicht nur in einem Kampf zwischen Nationalstaaten, sondern in einer Art globalem Bürgerkrieg, in dem sich entscheidet, ob die Zukunft unseres Planeten von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie oder von Gewaltherrschaft und Tyrannei bestimmt wird.