17/08/2021

Amerika und Afghanistan: Besser ein Ende mit Schrecken als Schrecken ohne Ende

„Frieden beginnt in den Köpfen“: Denkmal zur ersten Afghanistan-Konferenz 2001, Hotel Petersberg in Königswinter

Amerika musste aus Afghanistan raus, so wie Amerika einen Weg aus vielen anderen selbstgemachten Tragödien herausfinden muss. Kann Amerika sich nicht umorientieren, sind die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts für das Land nicht zu bewältigen.

Überfällige Kehrtwende
Wegen Trump und COVID, wegen China und Klima haben die Amerikaner Biden und einen Demokratischen Kongress gewählt, um die amerikanische Politik zu reformieren, um heute zu investieren, um morgen zu gewinnen. Nicht seit Roosevelt und seinem New Deal hat Washington so viel Geld in den Standort Amerika investiert. 

In der Außenpolitik heißt diese Kehrtwende, in europäische und asiatische Freundschaften zu investieren (auch ohne sofortige Rendite, wie bei Bidens Nordstream-2-Kompromiss zu sehen war). In der Außenpolitik heißt es auch, unrentable Posten abzubauen, da die neuen Herausforderungen diesen Luxus nicht mehr erlauben.

Die Probleme ändern sich, Amerika auch
Paradoxerweise bringt für die USA die Beendigung der militärischen Teilnahme an Afghanistans Bürgerkrieg einen Zugewinn an Macht. Sie zeigt die Fähigkeit, peinliche Fehlentscheidungen zuzugeben, um sich aus ihnen zu befreien. In einer sich schnell wandelnden Welt ist dies eine wertvolle Eigenschaft. So hat der Rückzug aus Vietnam auch Amerika langfristig mehr gestärkt als geschwächt.

Zwanzig Jahre nach 9/11 hat Amerika größere Probleme als Terrorismus, kann sich es nicht mehr leisten, die unvermeidbare Niederlage in Afghanistan auf die lange Bank zu schieben.

Langfristig gewinnt Amerika, in dem es sich aus diesem Friedhof der Imperien entfernt, die Probleme Afghanistans den Nachbarn China, Russland, Indien Pakistan und Iran überlässt, denn all diese Länder sind viel mehr von gewaltsamem islamischem Fundamentalismus bedroht als die USA, Europa oder Japan.

Das Ende des falschen Optimismus
Die Verteidigung der „Petersberger“ Regierung in Kabul gegen die aufständischen Taliban in einem primitiven Land von 38 Millionen Einwohnern wurde von Anfang an von vielen Militärs, Diplomaten und Entwicklungshelfern vor Ort als unmöglicher Auftrag gesehen—und beschrieben. Doch die Befehlshaber wollten nichts von der chronischen Korruption der afghanischen Regierung wissen, von der Untauglichkeit der afghanischen Armee und Polizei. Die enorme Dimension dieser Leugnung der Wahrheit in Washington und Brüssel, diese Verbreitung von falschem Optimismus, ist von Craig Whitlock und der Washington Post in schmerzvollem Detail dargestellt worden.

Unter Militärs und Wissenschaftlern ist die Erkenntnis gewachsen, dass Aufstände nicht mit Demokratie, Menschenrechten und Wirtschaftsentwicklung zu bekämpfen sind, sondern nur mit rücksichtsloser Brutalität und allerlei skrupellosen Partnerschaften mit blutrünstigen Milizenführern. So wollen die Amerikaner aber nicht vorgehen. Auf jeden Fall sagen Meinungsumfragen in den USA, dass eine große Mehrheit der Amerikaner einen Abzug jetzt unterstützt.

Für drei US-Präsidenten war es einfacher, den Blutzoll weiterzubezahlen, als zuzugeben, dass alles umsonst war, dass man besser früher als später raus sollte. So eine demütigende Zugabe der Niederlage ist an sich schmerzvoll genug. Ein krisenhaftes, unkontrollierbares Endspiel muss man aber dabei auch in Kauf nehmen. Der geordnete Rückzug bleibt eines den schwierigsten Manöver. 

Eine feindliche Regierung ist allerdings in mancher Hinsicht einfacher einzudämmen und abzuschrecken als ein Aufstand irregulärer Milizen. Eine Taliban-Regierung im Kabuler Präsidentenpalast ist leichter in transaktionale Verhandlungen einzubinden. Sind die Taliban daran interessiert, die Evakuierung am Kabuler Flughafen zu verhindern oder islamischen Terrorismus in den Westen zu exportieren, kann die USA das Leben für diese neue Regierung schon schwer genug machen, ohne das Land zu besetzen.

Seit 9/11 sind 20 Jahre vergangen, in denen andere Probleme – ob feindselige Großmächte, unkontrollierbare Technologien, die Folgen des Klimawandels oder die Verlockung der Demagogen innerhalb der demokratischen Welt – größer geworden sind. Punktuelle Terror-Angriffe wie 9/11 dürfen nicht mehr so viel Angst schüren wie sie dies in den letzten 20 Jahren getan haben. Resilienz heißt auch, nicht die Verhältnismäßigkeit zu verlieren. Die Gelder der Terror-Bekämpfung werden jetzt anderswo dringender gebraucht. Mit dem Risiko des Terrorismus muss man leben können. Die Menschheit steht vor größeren Gefahren.

Außenpolitisches Versagen der USA?
Im Rückblick ist zu sagen: 20, wenn nicht 30 Jahre lang gab es ein außenpolitisches Versagen der USA in Afghanistan. Eine Kombination aus Hybris und vorsätzlicher Ignoranz führte von einer Tragödie zur nächsten. Das „Weiter so!“ war in Washington immer einfacher, denn Politiker wollen Peinlichkeiten vermeiden, den Weg des geringsten Widerstands gehen, und alles auf die lange Bank schieben. Leider ist die Geschichte voll von solchen Fällen. Zu den Fehlern zu stehen, aus ihnen zu lernen, ist der einzige Weg, weiterzukommen.

Drängen die Bedrohungen anderswo, wird es einfacher. Es gibt Wichtigeres in der Welt als Afghanistan. In einer Zeit globaler Umgestaltung durch Covid-19 und der damit verbundenen gesellschaftlichen Umwälzungen sollte politische Führung mehr machen können, weil sie mehr machen muss. Der Luxus, Blut und Geld in Afghanistan weiter zu verlieren, um noble, aber unerreichbare Ziele zu verfolgen, besteht nicht mehr. Führung heißt Prioritäten setzen und Grenzen erkennen.

Außenpolitisches Versagen Deutschlands?
Gibt es in Afghanistan ein Versagen Deutschlands, dann in seiner Hilflosigkeit in der Krise. Deutschland kann weder selbst all die Deutschen (und ihre Freunde) in Afghanistan schützen und sicher herausfliegen, noch wirklich Einfluss auf die US-Strategie, die US-Operationen ausüben.

Die Deutschen waren nie bereit, annähernd das in Afghanistan zu investieren, was die Amerikaner dort investiert haben. In dem Sinne wirkt die heutige Kritik des amerikanischen Abzuges etwas kleinlich. Selbst die Bundeswehr, die Soldaten und Soldatinnen, die in Afghanistan schweren Dienst leisteten, haben die Deutschen nie so zur Kenntnis genommen oder gar gewürdigt, wie sie es verdient hätten.

Die Sensibilität dieses Thema ist darin behaftet, dass die Deutschen oft andere Ziele als die Amerikaner in der Außenpolitik verfolgen, dass sie aber bei der globalen und europäischen Sicherheit wie beim Dollar und dem amerikanischen Markt selbst wenig an Kapazitäten entgegenzusetzen haben. Stets von der verlorenen Glaubwürdigkeit der Amerikaner zu sprechen ist daher verständlich. Ist Amerika nicht bereit, in Afghanistan seinen Verbündeten treu zu bleiben, könnte Amerika ebenfalls dazu geneigt sein, seinen deutschen Verbündeten nicht treu zu bleiben. Im Sieg der Taliban liegt für Deutschland die Botschaft: einseitige Abhängigkeit ist unangenehm.

Die verratenen Freunde
Das Entsetzen der Freunde der Afghanen, ob bei Soldaten, Journalisten, Entwicklungshelfern oder Geschäftsleuten, dass ihre treuen Partner jetzt quasi ans Messer geliefert werden, ist verständlich. Ob die Benutzung der Lokalkräfte in Afghanistan zu verantworten war, ob als Übersetzer, Fahrer, „Security“ oder Haushaltshilfe, ohne die Wahrscheinlichkeit eines Sieges der Taliban ernst zu nehmen, und ohne selbst die Mittel zu Verfügung zu stellen, um alle Freunde und Helfer herauszubekommen, bleibt fraglich —gerade für die Deutschen. Auf jeden Fall sollte Deutschland so viele Afghanen aufnehmen wie möglich. Merkel spricht von 10.000. Das wäre ein guter Anfang. Die Amerikaner können mit der Sicherung der Flüge und Flughäfen helfen. Die Deutschen können bei sich die neuen Unterkünfte bauen, die erfolgreiche Integration finanzieren.

Was jetzt?
Dass US-Präsident Joe Biden vor seiner schwierigsten außenpolitischen Krise steht – eine, wie Trump sie nie erlebt hat – steht ohne Zweifel. Dass er diese selbst verursacht hat, macht es nicht einfacher. Hier waren sicher die teuflischen Optimisten am Werk, mit all ihren Behauptungen, der Fall von Kabul stünde nicht unmittelbar vor, der geordnete Rückzug sei machbar. Doch jede Andeutung der US-Regierung, Kabul sei nicht zu halten, die Ortskräfte müssten früher statt später heraus, hätte den Fall der Ghani-Regierung nur beschleunigt. Nichts war Ghani wichtiger als die Evakuation auf die lange Bank zu schieben, um den Eindruck der verlorengehenden Kontrolle nicht zu stärken und sich selbst in Sicherheit zu bringen.

Schadensbegrenzung ist für Biden jetzt höchstes Gebot. Der Rückzug muss geordneter laufen. Die Kontrolle des Flughafens ist unbedingt aufrecht zu erhalten. Die Taliban müssen hier Geduld zeigen. Mit einer Luftbrücke aus Kabul kann Biden auch einiges in der öffentlichen Meinung wiedergutmachen. Zuerst muss aber klar sein, dass der Flughafen gesichert werden kann. Angeblich haben Biden und das Pentagon hierfür gesorgt, die entsprechenden Kräfte bereitgestellt. So wichtig es ist, so viele Menschen wie möglich aus Kabul herauszufliegen, nicht nur wegen der Menschenwürde, sondern auch um Amerikas Ruf nicht weiter zu beschädigen, müssen andere Wege gefunden werden, den Fliehenden zu helfen, das Land verlassen zu können. Hier müssen Pakistan, Iran, Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan und China eingebunden werden.

In der Frage der Geflüchteten, auch in deren Rolle als Faustpfand in der Großmachtpolitik, ist Deutschland gut bewandert. Sollen die Deutschen jetzt für Afghanistan mehr machen wollen, könnten sie als erstes mehr Afghanen im Land willkommen heißen. Als nächster Schritt wäre die europäische und internationale Zusammenarbeit zu organisieren, um ausreichende humanitäre Hilfe für die zu erwartenden Geflüchteten bereitzustellen.

Gleichzeitig müssen die NATO-Partner weiter auf Verhandlungen setzen, in der Hoffnung, eine Eskalation des afghanischen Bürgerkrieges zu verhindern, eine Machtteilung zwischen Taliban und Nicht-Taliban zu erreichen. Die Nachbarländer werden alle versuchen, auf die Taliban Einfluss auszuüben. Sie wollen aber weder Terroristen noch Opium noch Geflüchtete aus Afghanistan in ihre Länder lassen. Diesen Anrainerstaaten ein Incentive zu geben, den Friedensprozess zu unterstützen und eine humanitäre Krise abzuwenden, wäre sinnvoll.

US-Präsident Joe Biden weiß seine Entscheidung zu verteidigen. Jetzt muss er aber zeigen, ob er seinen Worten Taten folgen lassen kann, ob er in der Schadensbegrenzung, vor allem bei der Zusammenstellung einer internationalen Koalition zur Sicherstellung der Evakuierung und Verhinderung einer humanitären Krise in Afghanistan Amerikas Glaubwürdigkeit wieder stärken kann. Deutschland hat jedes Interesse daran, den Amerikanern dabei zu helfen.